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IT’S A BRIGHT, GUILTY WORLD – TÄUSCHUNGSMANÖVER

Zu den neueren Arbeiten von Uwe Esser

von Beate Reifenscheid

Die Malerei von Uwe Esser ist ebenso verwirrend wie durchsichtig, ebenso einschmeichelnd wie hermetisch. Nichts scheint das zu sein, was es auf den ersten Blick vorgibt, und nichts wird zu dem, was es wurde, nachdem das erste Ergründen neue Tiefen in den Bildwelten von Uwe Esser offenbart. Vielmehr eröffnen die Werke von Uwe Esser immer wieder neue Labyrinthe des Sehens, des Denkens und des Fühlens. Es wirkt vermeintlich so leicht, in diese flüssig verlaufenden Bildstrukturen einzutauchen, aber ebenso rasch wird das ausgeworfene Netz optischer Anreize zum Fallstrick für denjenigen, der sich an der allzu glatten Oberfläche festzuhalten sucht, anstatt in die Tiefen hinabzusinken und Sinn und Struktur zu ergründen. Erst nach einem – mitunter längeren – Prozess des Bildsehens wird klar, dass das vermeintlich Zufällige, die spielerische Leichtigkeit, mit der Strukturen, Farben und Formen ineinander verschlungen und verwoben sind, mehr sind als sie scheinen (Produkte des wohlgefälligen Zufalls) und kompliziertere Sinngerüste bereithalten, als dass sie mit einem Mal zu begreifen seien. „Das, was hier aussieht, als wäre es mit flüssigen Farben gegossen und hätte sich nur dem malerische gesteuerten Zufall folgend auf der Bildfläche verteilt, folgt präzisen malerischen Setzungen. Jede Form hat einen genau definierten Platz, eine spezifische Größe, Transparenz und Farbigkeit. Letztlich fordern die Esserschen Arbeiten nicht ein Eintauchen, sondern ein Erfassen von Bildstrukturen, das nur aus wechselnden Betrachterpositionen möglich ist. An die Oberfläche kommende Details werden aus der Nähe sichtbar, sind aber nur aus der Distanz zu einem Ganzen zu vereinen.“[1]

In dieser eigentümlichen Dualität zwischen einem optischen „appetizer“ und einem sinnfälligen Konstrukt, das zu einer wahren Schule des Sehens und Erlebens wird, changieren die Werke von Uwe Esser. Aber im Gegensatz zu vielem, was zu streng, zu intellektuell – und damit auch zu schwierig, zu geschraubt – daherkommt, sind bei Uwe Esser andere Kriterien und andere Mechanismen angesetzt, die es geradezu leicht erscheinen lassen, sich den Werken mit Spannung und Neugierde zu nähern. Das liegt zuallererst an ihrer sinnlichen, haptischen wie koloristisch einladenden Oberfläche. Einladend, opulent in der Farbigkeit, sich selbst verströmend, appellieren sie geradezu an den Betrachtenden, sich zu nähern, sich auf sie einzulassen. – Man kann mit Fug und Recht behaupten, Uwe Essers Werke operieren mit der Täuschung, mit jenem Moment der Bilderzeugung, das bewusst auf ein optisches Ereignis abhebt, ohne dieses letzten Endes auch einzulösen, geschweige es überhaupt zu wollen. (Vielmehr wird in der Folge von prozesshafter Annäherung an die Bildidentität sich die Täuschung enttarnen lassen, worauf – im Idealfall – alle Werke Esser letztlich hintendieren. Die Täuschung ist jedoch wichtiges Mittel auf dem Weg der individuellen Bildfindung, wird quasi zur Voraussetzung eines aktiven Prozesses in der Erstellung von Bildwahrheiten, die nur der Betrachter selbst im Prozess des Anschauens sich erarbeiten kann und die ansonsten nur der Künstler selber – ohnehin sehr viel komplexer – im Entstehungsprozess selbst manipuliert und überwacht.) Die Frage stellt sich natürlich, worin das Moment der Täuschung liegt, wenn doch das, was zu sehen ist, sich als eine bildnerische Einheit darstellt und per se nicht auf Imitation abzielt. Erst diese würde ja eine Täuschung im Sinne einer Mimesis nahelegen, einer Nachahmung also, die etwas Anderes als real vorgibt, wenngleich dieses Andere auch als solches anerkannt und fraglos übernommen werden soll. Uwe Esser jedoch gibt zunächst ja gar nichts vor, kommt es doch auf das Farbspiel als solches bei ihm an, auf die verschiedensten Bildlagen, die als solche durchaus (wenngleich eher mühsam zu entziffern) zu erkennen sind und die es jedem freistellen, sie auch zu dechiffrieren. Bei genauerer Hinsicht jedoch beginnt spätestens an dieser Stelle dann doch das Problem des Erkennens und Deutens. „Auf jeder Ebene des Bildes treffen wir auf Formen, die uns an etwas Bekanntes, schon Gesehenes zu erinnern scheinen – und sich dann doch einer eindeutigen Festlegung entziehen.“[2] Erst bei längerem Hinsehen und Entziffern lösen sich einzelne Partien und bieten ihre eigene Lesart an: sei es, dass Figuren, Silhouetten, Wörter, Ornamente oder freie Muster auftauchen. Uwe Esser sammelt sie alle, nimmt sie aus dem Geschehen der Alltagswelt, befördert sie in neue Konstellationen und Zusammenhänge, malt sie ab oder schneidet sie aus, projiziert sie mittels Overheadprojektor an die Wand, spiegelt, halbiert, stückelt sie und nimmt ihnen so den exakt bestimmbaren Grad ihrer Wiedererkennbarkeit aus der Alltagsrealität. Schicht um Schicht lässt Uwe Esser seine Bilder anwachsen, füllt sie ebenso mit Farben wie mit Formen und fast will es scheinen, als herrsche ein horror vacui vor, denn die Fülle der Formen und Schichtungen lässt ein Durchdringen mit den Augen und den Sinnen im wahrsten Ursprung des Wortes kaum zu. Die Flut der Informationen, die auf den Betrachter einströmt, gleicht der eines flashs, den ein Zeitreisender durch das Universum erleben muss.

Im Moment der ersten Täuschung aber liegt eine wesentliche Kraft, die zu den neueren Bild- und Werkschichten führen wird. Sie sind, ähnlich wie schon in Platons berühmtem Dialog über das „Höhlengleichnis“ aus dem siebten Buch der Politeia (514ff), dazu angelegt, der Findung der Wahrheit näherzukommen, wenn nicht gar diese zu ergründen. So heißt es denn auch an einer Stelle im Zwiegespräch zwischen Sokrates und Glaukon, als Sokrates bereits von den in der dunklen Höhle gefangenen und gefesselten Menschen spricht, die nur Schatten vom Widerschein des Feuers an einer Wand als „ihre Welt“ bislang wahrnehmen konnten: „(Sokrates): Betrachte jetzt, erwiderte ich, wenn die Gefangenen gelöst und geheilt von ihren Fesseln und ihrer Einsichtslosigkeit, was ihnen dann zustoßen würde. Wenn einer entfesselt wäre, und gezwungen würde sogleich aufzustehen, den Hals umzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen, dann hätte er immer Schmerzen, und wegen des Geflimmers könnte er jene Dinge nicht recht erkennen, wovor er vorher die Schatten sah. Was meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihn einer versicherte, damals habe er nur Nichtigkeiten gesehen, jetzt aber wäre er dem Seienden näher und indem er sich dem Seienderen gewendet hätte, würde er auch richtiger blicken?

Und wenn jener ihm jedes Vorübergehende zeigend ihn fragte und ihn zwänge, auf die Frage, was es sei, zu antworten, glaubst du nicht, daß er da weder ein noch aus wüßte und überdies dafür hielte, das, was er vormals gesehen hatte, sei wahrer als das jetzt Gezeigte?“[3]

Uwe Essers Werke sind nicht so angelegt, dass man im Deduktionsschluss Schicht um Schicht herausschälen könnte, aber dennoch ist es mehr als hilfreich, sich über das scheinbar Zufällige hinwegzusetzen und mehr dem bewusst Gebauten und sich dann im Bildkontinuum sehr wohl auch ineinander Verfestigenden zuzuwenden. Die Täuschung liegt nur im ersten Moment, sie wird aber zum Prinzip noch einmal wesentlich ausgeweitet, wenn Uwe Esser sich räumlichen Situationen stellt und diese mit und durch seine Malerei vollkommen verändert (siehe „Auf der Marangu-Route“ im Kunstverein Grafschaft Bentheim 2008 und „Black Irish“ im Kunstverein Schwäbisch-Hall 2009) oder ganze Raumkörper baut, die auf nichts Anderem beruhen als auf Täuschung und Manipulation. Hier im Besonderen, wenn Esser spiegelnde Folie anwendet, wenn sich konkav und konvex begegnen und in sich gefangen bleiben oder den sie umgebenden Raum verkehren und kreuzen, so dass eine Orientierung – einem Labyrinth gleich – nicht gelingen kann, dann wird der Betrachter und der Bild-Raum-Begehende sich für kurze Momente gänzlich verlieren ... lost in translation, um einen berühmten Filmtitel einer gedanklichen Stütze gleich anzuwenden. In diesem Kontext mag es dann legitim erscheinen, sich einer schon in den frühen 1980er Jahren geäußerten These von Bazon Brock anzuschließen, der provokativ behauptete: „Wer heute ein Kunstwerk in alteuropäischem Sinne produzieren will, gedeckt durch die Künstlerideologie der göttergleichen Schöpfungskraft, muß zwangsläufig eine Fälschung begehen. Diese falsche Kunst ist aber insofern wieder die wahre, als sie ihre Falschheit nicht zu verstecken sucht, sondern gerade als ihr Problem vorführt. Sie ist nicht Falschheit, die sich aufrichtig nennt, obwohl sie weiß, daß sie nur noch lügen kann. Sie ist vielmehr wahr, insofern sie darüber argumentiert, daß in der gegebenen Situation nur das Falsche richtig getan werden kann. [...] Der Schwindel mit dem Heiligen, Göttlichen, Ewigen und Höchsten in der Kunst ist eindeutig genug. Aus ihm nähren sich alle Autoritäten. Placebokunst vermeidet diese objektiv schädigende Wirkung des Umgangs mit Kunst, ohne ihre begrüßenswerte positive Wirkung wesentlich zu schmälern. Die positivste Wirkung der Kunst für die Menschen liegt zweifellos darin, daß mit ihr die einzelnen Erscheinungen der Lebenswelt in so vielfältiger Weise unterscheidbar und damit bedeutungsvoll gemacht werden können, wie durch kein anderes Gefüge menschlichen Handelns und Erlebens.“[4]

Mehr noch als in seiner Malerei – wenn der Begriff als solches überhaupt bei Uwe Esser zulässig ist und nicht insgesamt zu kurz greift – geht er in seinen raumgreifenden Installationen der Frage nach, wie sich seine künstlerische Aussage in den Raum hinein fortsetzen lässt. Dabei geht es eben nicht mehr nur um die Malerei, sondern auch um die Definition, inwieweit die Kunst den Menschen selbst betrifft und involviert. Formal zieht er dabei zunächst die Farbschichten seiner Bilder auseinander, stellt sie einzeln in den Raum. Dazu benutzt er großformatige, ausgeschnittene und collageartig zusammengesetzte Formen und Spiegel, die den Betrachter als Teil des Bildes mit einbeziehen. Jede Bewegung verändert das eigene Bild im Spiegel, modifiziert aber auch die Erscheinungswirklichkeit des Werkes selbst, das nun seinerseits nicht eindimensional verstanden werden kann. Hier ist es die Kunst selbst, die ihre Vielschichtig- und Vieldeutigkeit nicht nur offenbart, sondern auch kalkuliert für die Wahrnehmung. Stärker noch wird dies in den überlebensgroßen Rauminstallationen von Esser deutlich, die zum pulsierenden Zentrum sämtlicher sinnlicher wie auch intellektueller Erfahrungen werden. Uwe Esser spielt hier gezielt mit der Raum- und Tiefenwirkung, stellt bewusst die Wahrnehmung des Betrachters in Frage oder führt sie zu einem unleugbaren Grad der Verwirrung. In seiner neuesten Raumkonstruktion treibt er diesen Prozess der Täuschung und der Irritation zum Höhepunkt: Nicht von ungefähr entlehnt er hier aus dem berühmten Film „The Lady from Shanghai“ von Orson Welles den Ausspruch It’s a bright, guilty world. Der Film zeigt die berühmte Rita Hayworth in ihrer ungewohnten Paraderolle als verruchte femme fatale, „gefangen“ zwischen zwei Männern. Beim eigentlichen Showdown im Spiegelkabinett eines Vergnügungsparks schießen die beteiligten Kontrahenten aufeinander, wobei sie zwischen dem Spiegelbild und der Realität nicht unterscheiden können und zwei sich schließlich gegenseitig umbringen. Im Spiegelbild offenbart sich eben nicht immer die Wahrheit.

Wenngleich hier für Essers Werke der Begriff der Täuschung und der Irritation aufgebracht wurde, sind dies nicht die tragenden Qualitäten der Arbeiten. Sie sind vielmehr Auslöser eines Prozesses, der schließlich einen Ausweg offeriert, einen Weg aus der „Höhle“. „Unsere Realitätsentwürfe stehen nicht ein für allemal fest, sondern beruhen auf jeweils vorgegebenen Strukturierungen. Eine Höhle entsteht nur dann, wenn bestimmte Seinsentwürfe oder Konstruktionen sich verfestigen und als unantastbar erscheinen. Erst dann stellt sich die metaphysische Frage nach einem „Höhlenausgang“ (H. Blumenberg), während wir in Wahrheit immer schon draußen, d. h. inmitten offen bleibender Sinnstrukturierungen sind.[5] Esser Arbeiten bieten immer einen Weg aus der Höhle heraus, sie lassen alle Offenheit beim Betrachter und Nutzer seiner Werke zu. Das Verfängliche der Täuschung liegt nur im Anfang begründet und birgt als wesentliche Seinswirklichkeit die Möglichkeit in sich, das Sehen als Ereignis und als Prozess der Erkenntnis – im doppelten Sinn als „Reflexion“ – zu begreifen. Dies geschieht ganz im Geiste der Aristotelischen Metaphysik und seines Begriffs der Emmanenz, nämlich dass bestimmte Eigenschaften eines Ganzen sich nicht aus seinen einzelnen Teilen erklären lassen. Populär ausgedrückt: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Man kann sich der Realität der Werke von Uwe Esser nur ganz und gar stellen, kann sich gefangen nehmen lassen von ihrer malerischen Verve, ihrer quecksilbrigen Neigung sich zu verflüssigen, ohne an Festigkeit zu verlieren. In Formen und Farben erlebt man die Wucht der (Alltags-) Realität, wenngleich um ein Vielfaches komprimiert und trotz des Gehalts an Wirklichem doch so irreal, sie wirken wie Kosmen, von denen nie zuvor gesprochen wurde und die zu ergründen es zur heiligen Pflicht wird. Man wird nicht müde, den offerierten Wegen und Nebenwegen zu folgen und läuft wie Alice im Wunderland von einer Sensation zur nächsten, ohne der Erschöpfung anheim zu fallen. „In ihren Formbildungsprozessen scheint sich das Leben selbst darzustellen als eine elementare, schöpferische Aktivität, als ein ursächlich energetisches Prinzip, eine dauernde Verwandlung jenseits mechanistischer und deshalb berechenbarer Gleichförmigkeit. [..] Nicht die sichtbare Oberfläche der Natur wird in diesen Bildern abgetastet, sondern ihre universelle Gegenwart dargestellt, ihre alles umfassenden Gestaltungsprozesse vergegenwärtigt.“[6]

Uwe Essers Werke sind in vielerlei Hinsicht mehrdimensional und entziehen sich deshalb konsequent einer eindeutigen Kategorisierung und Rezipierbarkeit. Es darf genügen, sich an der schönen Form zu erfreuen. Die Wahrheit der Werke jedoch liegt jenseits ihrer schönen Oberfläche, sie begründet sich in ihren komplexen Tiefen und in ihrem Wechselspiel zwischen dem individualistischen ünstlerischen Handeln, dem Akt der Dechiffrierung auf Seiten des Betrachtenden, der seine eigenen individuellen Sicht- und Erlebnisweisen einbezieht und dem dann eintretenden Akt der Ent-Täuschung.

1. René Stangeler, Jellyfishing, in: Jellyfishing, Villa Goecke Ralph Kleinsimlinghaus Krefeld, ARTAX Düsseldorf 2005, S. 6.

2. Hartmut Kraft, Bericht aus einem extraterritorialen Labor, in: Uwe Esser. Auf der Marangu-Route, Kunstverein Graftschaft Bentheim 2008, S. 11.

3. Platon: Politeia, Buch VII, 514.

4. Bazon Brock, Die Re-Dekade: Kunst und Kultur der 80er Jahre, Klinkhardt und Biermann, München 1990.

5. Rafael Capurro, HÖHLENEINGÄNGE. Zur Kritik des platonischen Höhlengleichnisses als Metapher der Medienkritik, Montag Stiftung Bildende Kunst (Hrsg.): (Ent-)Täuscht! Eine interdisziplinäre Vortrags- und Diskussionsveranstaltung. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2009, S. 76-85. Dort heißt es noch ergänzend: „Erst verfestigte Sinnentwürfe verwandeln sich in Höhleneingänge. Wir können aber Seinsentwürfe in ihrer Kontingenz erfahren, sie also als Seinsentwürfe wahrnehmen, weil wir immer schon einem kontingenten Möglichkeitsbereich offen sind. Das ist der Sinn des Heideggerschen Primats der Möglichkeit über die Wirklichkeit. Medienentwürfe einschließlich der Entwürfe der virtual reality sind in diesem Sinne nicht weniger wirklich als unsere sonstigen symbolischen und technischen Weltentwürfe.“

6. Hans-Jürgen Schwalm, Darmstadt 1997: „So gesehen, lassen sie sich im Sinne des Wortes „welthaltig“ nennen. Doch die Horizonte, die sie öffnen, sind ungesichert, weder gesellschaftlich konventioniert, noch historisch belegt. Sie sind zutiefst persönlich und spiegeln doch ein Empfinden, auf das jede Erkenntnis aufbauen kann.“

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